Donnerstag, 8. November 2012

Húsz


Ein Fass zu öffnen. Oder: Rundum zu schlagen

Am 30. Juni dieses Jahres sah man in Budapest eine bunte Menschentraube aus Frauen und Männern vom Deák tér über den Andrássy út und den Liszt Ferenc tér bis hin zum Klauzál tér marschieren. Manche von ihnen trugen Perücken, andere waren nur leicht bekleidet, viele von ihnen hatten Plakate gemalt und streckten diese in die Luft. Alle schrien sie „Nein heißt nein!“, A nem az nem!. Es war Budapests zweiter SlutWalk, Ribiséta auf Ungarisch. Die erste Demonstration unter diesem Namen fand im April 2011 im kanadischen Toronto statt, nachdem ein Polizist bei einer Veranstaltung in einer Torontoer Universität zum Thema „präventive Verbrechensbekämpfung“ den Studentinnen dazu riet, sich nicht provokativ wie eine Slut (Schlampe) zu kleiden, um nicht zu Opfern sexueller Gewalt zu werden. Mensch, wieso hat man uns Frauen nicht schon früher gesagt, dass wir aufgrund unserer dürftig vorhandenen Kleidung sexuell motivierten Straftaten zum Opfer fallen! Im Umkehrschluss also: einfach ein bisschen mehr anziehen, die Damen, dann hat man auch diese lästigen sexuellen Übergriffe los.
Die Männer, zumindest alle potenziellen Täter unter ihnen, sind in diesem trivial-tumben Szenario aber genauso Opfer: Opfer ihrer animalischen sexuellen Triebe, die sie beim Anblick von kurzen Röcken, Ausschnitten und nackter Haut nicht mehr zurückhalten können.

Diese Ansicht und die Aussage des Polizisten veranlassten einige der kanadischen Studentinnen schließlich, im Frühjahr 2011 den ersten SlutWalk zu veranstalten, um gegen sexuelle Gewalt gegenüber Frauen, für die Würde von Frauen und deren Freiheit, das anzuziehen, was ihnen gefällt, auf die Straße zu gehen. Innerhalb kurzer Zeit fand der SlutWalk Nachahmer auf der ganzen Welt: in den USA, Südamerika, Australien, Europa und so fort. Auch in Deutschland fanden in mehreren Großstädten Demonstrationen statt. Und 2012 auch wieder in Budapest. So viele Teilnehmer wie in Toronto, London oder Berlin zählte der Budapester SlutWalk zwar nicht: Circa einhundert Teilnehmer zählte Organisatorin Nóra Kiss. Als Erfolg kann man es sicherlich dennoch bezeichnen, wenn sich für ein derartiges Ereignis ohne lange Tradition (im Gegensatz z.B. zur Budapest Pride, die seit 1997 jährlich stattfindet) und das vielen Interessierten ggf. mehr Überwindung kostet, da sie als „Eine/r der Ersten“ mitlaufen, so viele mutige Anhänger finden.
Ich selbst war zu dieser Zeit nicht im Lande – hätte aber auch nicht an der Demonstration teilgenommen, da ich mich mit dem Titel „SlutWalk“ nicht identifizieren kann. Auch wenn die Bezeichnung eine sarkastische Anspielung auf die Aussage des kanadischen Polizisten darstellen soll: letztendlich degradiert sie die Demonstrantinnen zu etwas, als das sie ja gerade nicht bezeichnet werden wollen: zu Schlampen. Es ist ein psychologisches Prinzip, dass sich der Mensch nicht selbst als dumm, faul oder hässlich bezeichnen sollte, um am Ende weder sich noch andere tatsächlich davon zu überzeugen. Auch wenn mein Humor diesem Prinzip oft zuwiderläuft, so ist doch etwas dran: Wir Frauen sollten aufmerksamer gegenüber degradierenden, geschlechterspezifischen Beleidigungen werden und beginnen, diese öfter abzuwehren (auch auf die Gefahr hin, fortan als Spaßverderber, Verzeihung, Verderberin zu gelten).
Auch für Außenstehende, beispielsweise Passanten, die nicht mit dem Hintergrund des SlutWalk vertraut sind, dürfte der Titel der Demonstration eher andere Assoziationen wecken. Beim an den SlutWalk Budapest anschließenden Rundtisch-Gespräch sagte eine der Anwesenden selbst, dass sie den Eindruck hatte, viele Passanten hätten die Demonstrantinnen für Prostituierte gehalten, die für ihre Rechte kämpften. Und auch auf der Facebook-Seite des SlutWalk Budapest diskutierten im Vorfeld der Demonstration mehrere Frauen und Männer darüber, ob der Titel überhaupt sinnvoll sei. Auch wenn sich die Veranstaltung durch eine Namensänderung von der großen Schwester aus Kanada abkapseln würde – vielleicht würde Budapest (und ganz Ungarn) eine stärkere eigene, moderne Frauenbewegung, die durchaus aus einer derartigen Serie von Demonstrationen hervorgehen könnte, gut bekommen. Inklusive vieler weiblicher und männlicher Anhänger, versteht sich.



Skulptur "Néprajzkutatás" (ethnografische Forschung) von Ottó Szabó. Hier die zugehörige Beschreibung (ungarisch, deutsch, englisch). Gesehen in der Ausstellung "Friss 2012" im Kogart Haus.


Was wir dulden

Denn momentan verbindet so mancher Mann ungarische Frauen weniger mit humanen Qualitäten oder Leistungen in Wissenschaft, Musik und Kultur, sondern: mit Pornografie. Budapest gilt als die europäische Hauptstadt des Pornos. Als Fakt lässt sich dies schwerlich bezeichnen – fest steht jedoch, dass viele große Pornofilm-Produktionsfirmen wie „LuXx“ und einer der größten Server für Pornografie ihren Sitz in Ungarn haben. Wie in vielen anderen europäischen Großstädten, so gibt es auch in Budapest dutzende Strip-Lokale und Sexshops. Ein Rotlichtviertel hat sich zwar noch nicht etablieren können: Dennoch waren nach Aussagen des Budapester Polizeichefs im Jahr 2004 etwa eintausend Bordelle allein in der Hauptstadt in Betrieb – sicherlich nicht immer legalerweise, wie die hohe Zahl vermuten lässt. Ähnlich wie in Deutschland ist Prostitution in Ungarn legal, jedoch nur in den sogenannten türelmi zónák, also in Bereichen, in denen Prostitution von staatlicher Seite geduldet wird, und in Privatwohnungen. Seit 2007 sind die Prostituierten außerdem gesetzlich verpflichtet, Steuern auf ihre Beschäftigung zu zahlen. Da nach Schätzungen aber jede fünfte Prostituierte minderjährig ist (Mädchen wie Jungen) und die Zahl der registrierten Prostituierten etwa fünf Mal niedriger ist als die der inoffiziell arbeitenden und, nicht zu vergessen, die Zahl der Steuerzahler in Ungarn ohnehin unverhältnismäßig unter der der Steuerzahlungsbefähigten liegt, fallen für den ungarischen Staat tatsächlich nur geringfügige Steuereinnahmen durch dieses Gewerbe an.
Ohne Frage ist die Sexindustrie dennoch auch in Ungarn eine lukrative Branche. Nach Daten des Központi Statisztikai Hivatal, der Zentralen Behörde für Statistik in Ungarn, wurden 2008 insgesamt 165 Milliarden Forint (bei einem Kurs von 300 HUF also etwa 500 Millionen Euro) für die Dienste von Prostituierten ausgegeben. Andere Bereiche der Sexindustrie wie Sexshops, Peep-Shows, Striptease-Etablissements und pornografische Bezahlseiten im Internet ergaben 2007 einen Absatz von 636 Millionen Euro. Bei einem kleinen Land wie Ungarn mit etwa 10 Millionen Einwohnern eine erschreckend hohe Zahl.

  
Schaufenster in der Havanna Wohnsiedlung in Budapest

Leider bin ich bei der online Recherche im Bezug auf ähnliche Zahlen und Statistiken für Deutschland nicht fündig geworden – ich gehe jedoch davon aus, dass die Einnahmen der Sexindustrie gerade seit Einführung des Prostitutionsgesetzes enorm gestiegen sind. Dieses ist 2002 von der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder verabschiedet worden und legalisiert Prostitution und Bordelle, ursprünglich mit dem Gedanken, die Rechte der Prostituierten zu stärken. So sollten sie sich sozial versichern und ihr Entgelt einklagen können. Ein fairer Gedanke. Zur Folge hatte das Gesetz jedoch, dass sich weniger faire Bordellbetreiber mehr und mehr für Prostituierte aus dem Ausland interessierten, diese insbesondere aus Bulgarien und Rumänien, aber auch aus Ungarn nach Deutschland bestellten (Stichwort Menschenhandel) und ihnen durch den hohen Konkurrenzdruck immer niedrigere Löhne zahlten. In den Jahren nach Einführung des Gesetzes öffneten deutschlandweit außerdem mehr Bordelle als jemals zuvor, darunter auch sogenannte Flatrate-Bordelle (Stichwort Würde). Da nur etwa 1 % der Prostituierten in Deutschland einen Arbeitsvertrag unterschreiben, haben entsprechend wenige das Recht auf Krankenversicherung. Und auch ein gesetzlich vorgeschriebener Gesundheits-Check, zu dem auch ein Aids-Test gehörte, fällt seit dem Prostitutionsgesetz weg. Eine Pflicht, die Bordelle regelmäßig auf Hygiene oder die Einhaltung von fairen Arbeitsbedingungen hin zu kontrollieren, gibt es nicht. Eine Studie der Universität Heidelberg hat zudem ergeben, dass die Prostitutions- und Kriminalitätsrate in Deutschland seit Einführung des Prostitutionsgesetzes gestiegen ist. Das gut gemeinte Gesetz hat also zu kurz gegriffen – und steht nun vor einer riesigen Dunkelziffer neuer Probleme.

Kriminalisierung allein reicht nicht aus

Der Kauf von sexuellen Gegenleistungen wurde in Schweden bereits 1999 verboten. Somit wurden nur die Freier, nicht aber die Prostituierten bestraft – auch mit dem Hintergrund, dass diese ohnehin meist aus armen und bildungsfernen Schichten stammen und sich oft aus finanziellen Gründen in die Prostitution flüchten. Eine Studie aus dem Jahr 2011 zeigt die positiven Effekte des Verbotes auf das Land. So soll sich die Prostitution an sich nicht erhöht und die Straßenprostitution sogar halbiert haben. Das Gesetz habe außerdem den Menschenhandel erschwert und verbucht somit auch an dieser Stelle Erfolge. Zugegeben: Die Studie wurde von der schwedischen Regierung in Auftrag gegeben. Ihre Repräsentativität bleibt zu bezweifeln; letztlich ist es Vertrauenssache, was wir glauben. In einem Fernsehbeitrag auf arte wurde über einen massiven Zuwachs von illegaler und Straßenprostitution in Schweden gesprochen. Doch selbst wenn dies der Fall ist, bin ich mir sicher, dass die Prostitutionsrate insgesamt dennoch niedriger ist als in solchen Ländern, in denen Prostitution legal ist – insbesondere mit einer derart liberalen Regelung wie in Deutschland oder Holland.

Beatrice Ask, Ministerin für Justiz und Inneres in Schweden, bemerkt im Bezug auf das Gesetz in Schweden einen äußerst wichtigen Punkt: “Kriminalisierung kann niemals mehr als eine Ergänzung für weitere soziale Maßnahmen sein, welche wichtig sind, um Prostitution zu bekämpfen und ihr vorzubeugen.“ Denn all jenen Frauen und Männern, all den Mädchen und Jungen, die in den wenigsten Fällen aus Lust, sondern notgedrungen in der Prostitution arbeiten, kann nicht durch ein Verbotsgesetz geholfen werden. Sie brauchen vor allen Dingen Unterstützung bei ihrer Ausbildung, um einen anderen Weg einschlagen zu können. Dies gilt ohnehin aber insbesondere für Ungarn: Dort gehören etwa 60 % der sich prostituierenden Frauen und Mädchen und 44 % der Männer und Jungen der ethnischen Minderheit der Roma an. Viele kommen aus kleinen Dörfern mit wenigen Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten, stammen aus bildungsfernen Familien mit Hang zu Gewalt und Drogen. Die Ausbildung andernorts können sie sich nicht leisten oder fürchten Diskriminierung; viele haben diese bereits erfahren. Angesichts einer solchen Perspektivlosigkeit verspricht die Prostitution schnelles Geld – auch wenn dies zum Großteil nicht in den eigenen Taschen landet und die Arbeit den sich Prostituierenden physisch und psychisch große Gewalt antut.

„Menschen dürfen kein zum Kauf angebotenes Produkt sein“

Was ich an der Studie zu den Auswirkungen von Schwedens Anti-Prostitutionsgesetz jedoch schön finde ist, dass das Verbot des Erwerbes sexueller Leistungen auch einen normativen Effekt auf die Bevölkerung hatte und die Schweden das Gesetz mehrheitlich unterstützen. Denn in meiner Wahrnehmung widerspricht Prostitution nicht nur dem Empowerment of women, der Stärkung der Rechte von Frauen, sondern der Menschenwürde überhaupt. Viele Feministinnen, die sich gegen Prostitution aussprechen, gehen sogar so weit, sie als die moderne Version der Sklaverei zu bezeichnen. Diesen Standpunkt teile ich zwar nicht – ich sehe Prostitution jedoch als die erniedrigendste, menschenunwürdigste Branche der Sexindustrie an. Ohne Zweifel sollte die Politik die Frage, ob ein Verbot von Prostitution sinnvoll wäre, auch als eine moralisch-ethische betrachten.
In Island ist man schon längst so weit: Dort wurde es Arbeitgebern untersagt, von der Nacktheit ihrer Angestellten zu profitieren – ein Verbot, das hohe Wellen schlägt. Immerhin betrifft es nicht nur Prostitution, sondern auch Striptease-Lokale und Pornofilme, ja, die ganze Sexindustrie. Stripclubs und ähnliche Etablissements wurden zusätzlich in einem separaten Gesetz verboten. Und mit der Prostitution hält es Island seit 2009 wie Schweden und Norwegen: Freier werden bestraft, Prostituierte entkriminalisiert. (vor 2007 war auch das Anbieten von sexuellen Leistungen illegal) Kolbrún Halldórsdóttir, eine der ersten isländischen Politikerinnen, die ein Verbot vorschlug, hat klare Worte für die Begründung des Gesetzes: „Es ist inakzeptabel, dass Frauen oder Menschen im Allgemeinen ein zum Kauf angebotenes Produkt sind.“ Durchgesetzt hat diese Gesetze Premierministerin Johanna Sigurðardottir, Islands zweite weibliche und weltweit erste offen lesbische Regierungschefin. Der Politikerin sind Frauenrechte eine Herzensangelegenheit. Mit dieser Einstellung dürfte sich Frau Sigurðardottir momentan pudelwohl auf der Insel fühlen.



 "Cotton Candy Sky" von Will Cotton, Öl auf Leinen, 2006. Quelle: www.willcotton.com

Women’s paradise

Die Newsweek wählte Island in seiner Ausgabe vom September 2011 nämlich auf Platz Eins der „Best places to be a woman“. Untersucht wurden dabei insgesamt 165 Länder, welche auf fünf Merkmale, die das Leben von Frauen besonders beeinflussen, überprüft wurden: Rechtswesen, Gesundheit, Bildung, Wirtschaft und Politik. Island sicherte sich seinen Platz dabei vor Schweden, Kanada, Dänemark, Finnland und der Schweiz. Deutschland landete auf dem 30., Ungarn auf einem desaströsen 112. Platz, weit hinter Rumänien (20) und Tschechien (72). Sogar Länder aus der arabischen Welt mit teils stark patriarchalen Strukturen wie Bahrain und Katar schnitten mit dem 102. und 97. Platz besser ab als Ungarn.

Hier die Aufschlüsselung der Ergebnisse:

30: Germany
Overall score (out of 100): 83.4
Justice: 74.0
Health: 94.7
Education: 96.8
Economics: 78.2
Politics: 62.7

112: Hungary
Overall score (out of 100): 58.0
Justice: 19.3
Health: 91.9
Education: 96.9
Economics: 70.2
Politics: 36.0

In der Untersuchung der Newsweek wurde es Ungarn insbesondere zum Verhältnis, dass das Ergebnis ein Mittelwert aus den Einzelergebnissen der fünf Kategorien ist. So wird Ungarns Performance in Bildung und Gesundheit als sehr gut bewertet, im Rechtswesen und der Politik schneidet es hingegen sehr schwach ab. In der Kategorie Gesundheit waren die Kriterien folgende: Höhe der Mütter- und Säuglingssterblichkeit und der HIV-Infizierten, Zugang zu sicheren Abtreibungen und qualifizierten Beschäftigten im Gesundheitssektor. Etwas habe ich mich an dieser Stelle schon über die hohe Punktzahl Ungarns gewundert: Immerhin ist es kein Geheimnis, dass staatliche Krankenhäuser mit minimalen finanziellen Hilfen haushalten müssen. In einem ungarischen Zeitungsartikel las ich einmal, dass eines der größten staatlich geförderten Krankenhäuser in Budapest  für seine geriatrische Abteilung monatlich nur 100 € zur Verfügung hat. Die ungarischen Ärzte, sofern sie nicht in Privatpraxen arbeiten, sind ohnehin chronisch unterbezahlt und sichern sich ihren Lebensunterhalt deshalb mit hála pénz, dem Dankesgeld, das von Patienten in vielen  Fällen vor Operationen, Geburten und ähnlichen Eingriffen und somit als Schmiergeld gezahlt wird. Jedoch hat die Nationale Kasse für Gesundheitsversicherung (magyarul: Országos Egészségbiztosítási Pénztár [OEP]) im August 2011 ihre Zuschüsse für staatliche Krankenhäuser erhöht; womöglich konnte sich so die Situation zum Zeitpunkt der Umfrage entspannen.

Gleich und gleich?

Dass Ungarn in Sachen Politik trotzdem nur 62,7 Punkte erhielt, dürfte angesichts der Kriterien für diese Kategorie nicht verwundern: Denn der Anteil an Frauen in der Politik und in leitenden Positionen, nach dem die Newsweek fragte, ist in Ungarn sehr mager. Laut Interparlamentarischer Union waren 2010 nur etwa 10 % der Parlamentssitze an Frauen verteilt; die restlichen 90 % bekleideten Männer. In Deutschland sind es immerhin um die 30 % Frauenanteil im Parlament. Was die Bezahlung von Frauen mit den gleichen Qualifizierungen im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen angeht, schneiden Deutschland und Ungarn ungefähr gleich schlecht ab. Eine Umfrage aus dem Jahr 2010 ergab, dass eine ungarische Frau im Durchschnitt 13 % weniger verdient als ein männlicher Arbeitnehmer mit den gleichen beruflichen Voraussetzungen. Je länger beide arbeiten, desto größer wird außerdem der Unterschied in der Bezahlung von Frau und Mann. Das studentische Online-Magazin MOHA ließ sich das sogar von einem Online-Bezahlungsrechner schriftlich geben: Einer Frau wollte der Kalkulator grundsätzlich 100 € (30.000 HUF) weniger bezahlen als ihrem virtuellen männlichen Gegenstück. In Deutschland ließ sich darüber hinaus (beispielsweise in einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit aus dem Jahr 2009) ein interessanter, wenn nicht weniger trauriger Trend feststellen: Wohingegen Frauen bis zu einem Entgelt von 2000 € im Durchschnitt mehr verdienen als ihre männlichen Kollegen (sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigte, ohne Auszubildende), so liegen beide Geschlechter bei einer Nettobezahlung von 2-3000 € gleich auf. Darüber hinaus, bei Bezahlungen ab 3000 € plus, sind es jedoch die Männer, die weitaus mehr Geld auf ihrem Konto verbuchen können. Eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) kam im März 2012 auf ein weitaus vernichtenderes Ergebnis: Eine vollbeschäftigte Frau mit mittlerem Einkommen verdiene hierzulande knapp 22 % weniger als ein Mann – das Lohngefälle sei in Deutschland daher so groß wie in keinem anderen Industrieland Europas. Merkwürdig also, dass Deutschland bei der Newsweek-Untersuchung in Bezug auf Wirtschaft um acht Punkte besser abschneidet als Ungarn.

Warum ist das so? Die Hauptgründe für diesen unsäglichen und in zahlreichen Studien belegten Fakt, dass wir Frauen im Schnitt – und ironischerweise gerade im von einer Dame regierten Deutschland – schonungslos unterbezahlt sind, sind nur eine Hand voll. Dazu gehört die Unterbezahlung der weiblichen Angestellten als bewusste Entscheidung, da eine Frau Schwangerschafts- und Kindererziehungs-bedingt ja ohnehin für ein paar Jahre von der Bildfläche verschwinden könnte. Kein Wunder ist es unter Frauen mittlerweile ein Geheimtipp, bei Bewerbungsgesprächen nichts von der eigenen Familienplanung zu erzählen. Durch die fortlaufende (obgleich sukzessive sinkende) Bezahlung während des Mutterschaftsurlaubs, obwohl eine Frau in dieser Zeit nicht als Arbeitskraft zur Verfügung steht, meinen viele Arbeitgeber, sie würden für eine weibliche Angestellte durchschnittlich mehr Geld aufwenden als für den männlichen (und hoffentlich nicht in Vaterschaftsurlaub gehenden) Arbeitnehmer. Aufgrund dessen traditionell arbeits- und karriereorientierter Einstellung hat ein Arbeitgeber weniger Ausfälle und Komplikationen zu befürchten als bei seiner eventuell schwanger werdenden, gegebenenfalls in Mutterschaftsurlaub gehenden, vielleicht erneut schwanger werdenden und dann für immer zu Hause Socken bügelnden Angestellten. Natürlich ist das Quatsch, diese Art der „präventiven Unterbezahlung“. Die Löhne anzupassen ist nicht nur fair (und eigentlich schon deshalb keiner Diskussion würdig), sondern auch für den Arbeitgeber von Vorteil, sofern er sich motivierte und engagierte Angestellte wünscht. Die Deutschen wechseln in ihrem Arbeitsleben im Schnitt fünf Mal ihren Arbeitsplatz. Eine faire und gleiche Bezahlung ist für Arbeitgeber eine Strategie, häufige Rotation innerhalb ihres Betriebes zu verhindern. Abgesehen davon wünscht sich nicht jede Frau Kinder; im Durchschnitt bringen die deutsche sowohl als auch die ungarische Frau nur 1,3 Kinder zur Welt. Das heißt, der Arbeitgeber sollte eigentlich hochmotiviert sein, seine weiblichen Angestellten mithilfe fairer Bezahlung an sich zu binden, denn die Chancen stehen gut, dass sie auch nach 1,3 Kindern wieder zurückkehren zu ihrem Arbeitsplatz.

Female depressment

Den Punkt, dass Frauen zahlreichen psychologischen Studien zufolge wichtig für ein ausgeglichenes Betriebsklima sind, durch kreative Denkansätze zu neuen Lösungen verhelfen und auch sonst genauso viel draufhaben wie Männer (ja, in den Schulen sogar oft bessere Leistungen erbringen als ihre männlichen Mitschüler), werde ich an dieser Stelle nicht vertiefen. Ich hoffe, dass diese Information doch bereits den ein oder anderen erreicht hat. Leider gibt es noch einen weiteren Grund für die Ungleichbezahlung der Geschlechter, und als Frau fällt es mir nicht gerade leicht, diesen zuzugeben: Wir Frauen kämpfen oft nicht genug für unser Recht auf faire Bezahlung. Nicht selten fehlt es uns schlicht an Selbstbewusstsein und Stolz. Wir möchten niemandem zur Last fallen, gerade aufgrund potenzieller Kinderwünsche, und schätzen unsere Qualifikationen oft vollkommen falsch ein. Über gleiche Rechte zu reden, trauen wir uns erst gar nicht; das Thema wird ja doch nur belächelt. Das jedenfalls lehrte mich ein Professor für Politik an meiner Universität. Sein Fachgebiet, die Entwicklungszusammenarbeit, ist stark mit dem Thema „Female empowerment“ verknüpft. Dass es die Stärkung von Frauenrechten braucht, um ein Land fortzuentwickeln, ist in der Politikwissenschaft keine Frage mehr (wer dennoch daran zweifelt, frage Hillary Clinton). Wie anders die Realität jedoch aussieht, ist ein deprimierender Fakt.

Selbstverständlich ist nicht alles schwarz oder weiß: Es gibt Arbeitgeber, die fair bezahlen und solche, die keine Frauenquote benötigen. Genauso arbeiten viele Frauen bei fairer Bezahlung in Führungspositionen, obwohl sie vor einigen Jahren in den Mutterschaftsurlaub gingen. Ausnahmen bestätigen immer die Regel. Dass Frauen jedoch oft in einer Rolle stecken, die ihnen breite Teile der Gesellschaft verpasst haben und aus der sich zu befreien sie selbst oft keine Notwendigkeit sehen, ist jedoch ebenso wahr. Die Ansprüche, die insbesondere die Medien an Frauen setzen, sind wahnsinnig hoch: Hübsch, sexy, dünn und fleißig soll sie sein, die moderne Frau; den Haushalt erledigen und die Kinder versorgen, im Idealfall gleichzeitig die Karriere buckeln und, nicht zu vergessen, den Mann sexuell befriedigen. Alles nachzulesen in „Frauenzeitschriften“, die wenig solidarisch ein ganzes Regelwerk für, ich nenne sie mal, dienliche oder „convenient women“ aufstellen. Gerade kürzlich hat mich und zwei meiner Freundinnen eine dieser Zeitschriften wieder richtiggehend vor den Kopf gestoßen. In der Ausgabe der Glamour vom August 2009 handelte ein Artikel über „Den perfekten Blow Job“. Abgebildet waren Frauen; spindeldürre, barbusige Models in anstößigen Posen. Der Artikel war allein der Befriedigung von Männern gewidmet, was für mich an sich noch kein Grund zum Ärger ist. Auch finde ich es nicht verwerflich, dass in Frauen- und Männerzeitschriften überhaupt über Sexualität geschrieben wird. Immerhin wurde ich  von der BRAVO aufgeklärt! ;o) Und wieso sollte man sich nicht auch im Erwachsenenalter Tipps aus der Literatur holen. Doch natürlich ist es eine Frage des „wie“: Wie wird hier über Sexualität geschrieben, wie wird sie dargestellt? Und die Antwort, zumindest in Bezug auf den Glamour-Artikel ist: der Frau unwürdig. Denn dieser Artikel bediente sich einer Sprache und Bildern, die Frauen zum – im wahrsten Sinne des Wortes – bloßen Sexspielzeug degradierten. Schon den Begriff „Blow Job“ halte ich für unangemessen. Er verdeutlicht nur die Einstellung zur Frau als Objekt, das seinen Zweck zu erfüllen, eben den „Job“ zu erledigen hat. Und dies wird uns Frauen immer und immer wieder durch die Medien vorgehalten. Sollten „Petra“, „Jolie“, „Brigitte“ (ja, auch du!) und Co. nicht unsere „Freundin“ sein?

 

Wiederverwendbares fiktionales Frauenzeitschriften-Cover aus den USA. Quelle: blog.stuttgarter-zeitung.de


(Nobody’s) body is perfect

Natürlichkeit ist dabei nicht gern gesehen. Und wenn doch, dann meist mit der Message: So bitte nicht. Beispiel Cellulite. Schön findet sie sicherlich niemand, genauso wenig wie Geheimratsecken. Aber: Sie existieren nun einmal Jeder Mann leidet früher oder später an Haarausfall, jede Frau an „Orangenhaut“. Na und? Tun kann man dagegen abgesehen von chirurgischen Eingriffen wenig bis nichts. Dann muss man uns Frauen diesen Makel doch nicht auch noch ständig vor Augen halten (wird bei den Männern doch auch nicht gemacht). Und doch: Sobald ein „Promi“ Cellulite oder ein paar Pfund mehr auf den Hüften hat, geht das große Lästern los. Und der Umgang mit „unperfekten“ Männern? Lest selbst: http://seriouslyomg.com/?p=26617

Natürlich ist niemand gezwungen, Medien dieser Art zu konsumieren. Privatfernsehen genauso wie Frauen-, Lifestyle- und Boulevard-Zeitschriften lassen sich wunderbar vermeiden. Plakaten, Werbung des Email-Providers und sonstigen Anzeigen im Internet ist man jedoch alltäglich ausgesetzt und wird somit ständig subtil von diesem künstlich geschaffenen Wahn zwischen falschen Idealen und Übersexualisierung in Beschlag genommen. Und der springende Punkt ist ja folgender: Wieso müssen wir, Frauen und Männer gleichermaßen, am laufenden Band diesen Trugbildern ausgesetzt sein? Was nutzt uns die Übersexualisierung von jungen Frauen, der wir überall begegnen? Und wieso ist es so schwer, Medien zu finden, die Frauen und Männer natürlich, fair und somit würdig darstellen? Medien arbeiten schlichtweg oft nach dem Prinzip „Provokation schafft Aufmerksamkeit schafft Leser/Zuschauer/Konsumenten“. Dabei war es vor 50, 60 Jahren provokant, eine Frau im Minirock oder gar barbusig abzubilden. Durch Gewohnheit und die fortlaufende Übersättigung mit erotisch intendierten Bildern veränderte sich die Wahrnehmung innerhalb unserer Gesellschaft dessen, was als provokant gilt. Wir gewöhnen uns schlichtweg an die Wirkung von Bildern, denen wir exponiert werden, stumpfen ab, sehen sie als „gegeben“ und zweifeln sie nicht mehr an: Ganz gleich ob es sich nun um Bilder gewalttätigen oder pornografischen Inhalts handelt (obgleich das eine mit dem anderen oft einhergeht). In meinen Augen obszöne und unangebrachte Fotografien von Frauen in der Glamour dürften schwer zu bekämpfen sein. Gegen gewalttätige Pornografie ist jedoch eigentlich sogar der Staat selbst verpflichtet vorzugehen, denn wer Pornomaterial herstellt oder verbreitet, das Gewalttätigkeit zeigt, dem droht laut Paragraph 184a des Strafgesetzbuches eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren. Dabei ist es nicht einmal von Bedeutung, ob sich die Filmdarsteller dieser Gewalt freiwillig aussetzen. Die Gesetzeslage in Deutschland ist also bezüglich Gewalt verherrlichender Pornografie streng – in der Praxis spürt man davon jedoch wenig, denn die Videothek von nebenan hat natürlich nicht nur Soft Pornos oder frauenfreundliche Streifen von Petra Joy im Angebot (ganz zu schweigen vom in dieser Hinsicht beinah anarchischen Internet).

„Du bist einfach nur prüde / mach‘ dich doch mal locker / ach, und die Pornos sind nun Schuld an allem, oder was?“ - Prüde ist wer Prüdes tut / locker bin ich schon lange nicht mehr / nein, aber:

Ich halte die Sexindustrie sowohl für einen Grund als auch eine Konsequenz der Ungleichheit zwischen Frau und Mann. Allein Pornografie ist heute eine der wenigen nicht tot zu kriegenden Erscheinungen, die uns Frauen beinah alltäglich daran erinnern, dass wir immer noch einen halben Schritt zurückliegen. Dabei wird unsere Sexualität, ja, Sexualität im Allgemeinen, absolut unverhältnismäßig dargestellt: unverhältnismäßig zur Realität und zur gezeigten Männer-Sexualität. Wir sehen irreal geformte Frauenkörper, deren sehnlichster Wunsch es ist, ihren irrealen Partnern ein ganz nach deren Wünschen gestaltetes Sexerlebnis zu bescheren. Auch wenn’s weh tut, Spaß macht’s trotzdem. Die reichlich bestückten Männern genießen das Schauspiel eine beträchtliche Weile lang, Küsse werden tunlichst vermieden. Am Ende darf der Zuchthengst seine feucht-fröhliche Errungenschaft gern auch im Gesicht seiner Rammelpartnerin kundtun. Ich bin davon überzeugt, dass diese Art der Darstellung von Sex am lebenden Körper weder Männern noch Frauen und am allerwenigsten jungen, sexuell unerfahrenen Heranwachsenden guttut, vielen sogar schadet. Einerseits aufgrund der Gewaltdarstellungen insbesondere in der Internetpornografie (Beispiele: für Frauen sichtbar schmerzhafter Geschlechtsverkehr, Vergewaltigungsszenen, Kinderpornografie, Sodomie), also Darstellungen, vor denen man insbesondere junge Menschen schützen sollte, andererseits aufgrund der fast immer gegebenen Übersexualisierung und Objektifizierung von Frauen (und Männern, im Übrigen, gleicherseits).
Gern würde ich mich damit brüsten, dass mir zahlreiche wissenschaftliche Studien in diesem Punkt Recht geben – und es gibt durchaus Beispiele hierfür (siehe Linkliste unten). Doch insgesamt gibt es einerseits zu viele unseriöse Studien (Beispiel: „Prof.“ Henner Ertels Langzeitstudie aus dem Frühjahr 2007; siehe hier und hier) und andererseits zu wenig Einigkeit innerhalb der Wissenschaft – das Forschungsfeld ist ähnlich heterogen wie das zum Zusammenhang von gewaltvollen Computerspielen und gewalttätigem Verhalten. So bleibt nur die eigene Überzeugung und meine ist: Sexualität wird gelernt – doch dieser Lernprozess sollte nicht durch realitätsferne Darstellungen im Internet sondern durch aufklärende Eltern und liebevolle (Sexual-)Partner passieren. Schön wär’s.

First things first

Einer Studie aus dem Jahr 2009 zufolge erledigen Frauen im Schnitt 35 Mal so viel Hausarbeit wie Männer. Das sind viele viele gewaschene Socken, geputzte Klodeckel, gestaubsaugte Schlafzimmer und gespülte Tassen, die zwischen dem männlichen und weiblichen Teil einer Beziehung liegen. Wieso eigentlich? Wieso noch.


Links:



Mein empowerment Soundtrack:

Grimes – Genesis: Die Kanadierin findet sich als Sexobjekte darstellende Frauen im Popbusiness nicht cool (und tut dies deshalb selbst nicht).
Iamamiwhoami – Goods: Jonna Lee sieht man in ihren Videos zwar gern in ihrer weißen Lieblings-Baumwollunterwäsche – von Victoria Secret ist das jedoch so weit entfernt wie Orbán von Obama.
Pink feat. William Orbit – Feel good time: Pink ist vielleicht nicht als führende Sprecherin für Frauenrechte bekannt, aber sie war noch nie stereotyp wie viele ihrer Kolleginnen und, am wichtigsten, der Songs ist einfach total gut.
M.I.A. – Bad girls: Erstens ist Maya Arulpragasam hochgradig politisch und zweitens eine der wenigen weltweit erfolgreichen dunkelhäutigen Musikerinnen und drittens driftet sie im Musikvideo zum Song mit ihren Freundinnen im Leoparden-Kopftuch in der Arabischen Wüste rum.
Britta Persson Meet a bear: Britta, ich sah dich damals in Leipzig, und du warst so schüchtern und niedlich, und wenn du ein Lied machst, in dem Tokio und Bären vorkommen, mag ich dich nur umso mehr.
Scout Niblett I miss my lion: Sie sah ich in Budapest, und sie hat die zarteste Stimme. Emma Louise Niblett, willst du meine Freundin sein?
Gemma Hayes Hanging around: Die Irin ist eine der natürlichsten Singer-Songwriterinnen überhaupt und stellt trotz ihrer Schönheit nie sich, sondern immer ihre Musik in den medialen Vordergrund.
Erase Errata Tax Dollar: Eine All-Girl-Band, also das Totschlag-Argument für diese Liste.
Stereo Total - Die Frau in Der Musik: Höret den Text, kennet Francoise Cactus, dann bedarf es keiner Erklärung.

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